Die Gründung der Universität Bayreuth und die Welt von heute
Festrede zum 50. Jahrestag der Gründung der Universität Bayreuth
am 20.10.2025 im Markgräflichen Opernhaus, Bayreuth*
Prof. Dr. Jan-Otmar Hesse

„An der Wiege der Universität Bayreuth stand keine Universitätsideologie Pate; […] Die Bayreuther Grundkonzeption liegt vielmehr in dem bewußten Verzicht auf ein Totalkonzept […und] in der Distanzierung von einer Technik der Ganzheitsplanung! [Die Bayreuther Grundkonzeption geht von] dem Bekenntnis zu einer offenen und pluralistischen Universität [aus], [von] der Hinwendung zu einer Technik des schrittweisen Umbaus überholter Formen und Institutionen, vorgenommen von Fall zu Fall.”¹
Diese Worte stammen nicht von mir, sondern von dem Münchener Physikprofessor und späteren Bayerischen Wissenschaftsminister Wolfgang Wild. Wild war von der Bayerischen Staatsregierung zum Vorsitzenden der „Strukturkommission“ gemacht worden, die zwischen 1971 und 1975 das Grundkonzept der Universität Bayreuth erarbeitet hat. Im November 1975, zum Beginn des Lehrbetriebes und anlässlich des Festaktes zur Eröffnung der Universität Bayreuth, legte diese Kommission eine Art Abschlussbericht vor, der mit den zitierten Worten Wilds beginnt. Ich meine, dass sich in diesen Worten – niedergeschrieben vor ziemlich genau 50 Jahren – ein Erfolgsmuster findet, das in der Geschichte unserer Universität immer wieder angewendet worden ist: Der Verzicht auf eine „Universitätsideologie“ und der „schrittweise Umbau … von Fall zu Fall“. Das klingt auf den ersten Blick möglicherweise wenig spektakulär. Wenn wir aber bedenken, dass mit diesem Erfolgsrezept über 50 Jahre hinweg, in einer sich sehr schnell verändernden deutschen Gesellschaft zuverlässig wissenschaftliche Erfolge generiert wurden und der Universität Bayreuth so zu einem unbestrittenen Platz im deutschen Wissenschaftssystem verholfen wurde, so weckt das doch die Neugier, wie es vor fünfzig Jahren entstanden ist. Ich möchte Sie also mitnehmen auf eine Reise in die jüngere Vergangenheit, in das Jahr 1975, als der VW-Polo das Licht der Welt erblickte, genauso wie die Yps-Hefte, und eben auch unsere Universität. Wir schauen dann, wie unsere Universität erwachsen wurde, wie sie sich entwickelt hat und was wir hieraus heute, an ihrem 50. Geburtstag, für die Zukunft lernen können.
Als die Universität Bayreuth 1975 den Lehrbetrieb aufnahm, war eine gewaltige Welle des Hochschulausbaus über das Land hinweggezogen. Innerhalb von nur 15 Jahren hatte sich die Zahl der Universitäten in der Bundesrepublik verdoppelt. Nur 16 Universitäten und 9 Technische Hochschulen gab es Anfang der 1960er Jahre. An allen Universitäten zusammen studierten damals gerade einmal 350.000 Menschen – allein in Bayern gibt es heute mehr als 400.000 Studierende.
Die Hochschulbildung musste Anfang der 1960er Jahre also dringend ausgebaut werden, schon die Zuwanderung von 13 Millionen „Heimatvertriebenen“ und DDR-Flüchtlingen verlangte dies, aber auch die starken Geburtenjahrgänge seit Mitte der 1950er Jahre. Nicht einmal genügend Lehrerinnen und Lehrer würde das Land andernfalls ausbilden können, so mahnte der Freiburger Bildungspolitiker Georg Picht und warnte vor einer „deutschen Bildungskatastrophe“.² Hierzu mussten zunächst einige Hindernisse beseitigt werden. Erst durch das „Hochschulbauförderungsgesetz“ vom Sommer 1969 war beispielsweise dem Bund die Beteiligung an der Finanzierung des Hochschulbaus erlaubt. Willy Brandt, im Oktober 1969 zum Bundeskanzler gewählt, erhob den Hochschulausbau schließlich zu einem Schwerpunkt seiner Amtszeit – in der berühmten „Wir wollen mehr Demokratie wagen“-Rede. Kurz zuvor hatte der Bayreuther Oberbürgermeister Hans Walter Wild seinem Parteifreund Brandt bei einem Wahlkampfauftritt in Bayreuth noch die Idee einer Universitätsgründung mit auf den Weg gegeben.
Die Universitätsgründungswelle, die darauf in der Bundesrepublik einsetzte, ist beeindruckend – nicht zuletzt vor dem Hintergrund heutiger Schwierigkeiten mit öffentlichen Bauprojekten: Zwischen 1965 und 1982, innerhalb von nur 17 Jahren, wurden insgesamt 19 Universitäten neu gebaut. Zahlreiche Fachhochschulen kamen hinzu und gleichzeitig wurden auch die vorhandenen Universitäten erweitert und modernisiert. Die Zahl der Studierenden in der alten Bundesrepublik verfünffachte sich. Zur Wiedervereinigung gab es allein in Westdeutschland 1,5 Mio. Studenten. Heute gibt es in Deutschland fast doppelt so viele Studierende, mehr als 400 Hochschulen (davon ca. 100 Universitäten), an denen ungefähr 50.000 Professorinnen und Professoren tätig sind. Viele von uns hätten keine universitäre Ausbildung genossen, hätten nicht als Wissenschaftlerin und als Wissenschaftler arbeiten können, hätte es diese Ausbauleistung nicht gegeben, von der Bayreuth ein Teil gewesen ist.
Ich möchte noch einen kurzen Moment bei den geschichtlichen Rahmenbedingungen verweilen, unter denen die Universität Bayreuth gegründet worden ist. Das waren nämlich keineswegs rosige Zeiten: Der Bericht des „Club of Rome“ über die „Grenzen des Wachstums“ war 1972 erschienen und hatte das Problem der Überbevölkerung und damit verbunden den zu großen Ressourcenverzehr der Menschheit zum Thema gemacht. Im gleichen Jahr war es zum Attentat bei den Olympischen Spielen in München gekommen. Die Nachkriegsordnung des globalen Finanzsystems brach Anfang 1973 zusammen und im Oktober desselben Jahres hatte der Jom-Kippur-Krieg zwischen Israel und Ägypten die erste Ölpreiskrise ausgelöst. In den Industrieländern stockte der wirtschaftliche Aufschwung. Nach Jahren der Vollbeschäftigung stieg die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik sprunghaft auf 5 %, die Bundesregierung verhängte ein für damalige Verhältnisse gewaltiges Ausgabenprogramm in Höhe von mehr als 50 Mrd. DM oder 5,2 % des damaligen BIP.³ Die Geschichtswissenschaft beschreibt die 1970er Jahre heute als einen wichtigen Wendepunkt, in der die Nachkriegsprosperität – die „trente glorieuse“, die dreißig goldenen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – zu Ende ging und die Welt in eine Zeit der Krisen und Spannungen eintrat.
Die Gründer unserer Universität haben sich hiervon aber nicht entmutigen lassen! Das finde ich äußerst bemerkenswert. Wenn Sie sich die Unterlagen anschauen, da finden Sie kein Jammern und kein Klagen, sondern zielstrebige konstruktive Aufbauarbeit.
Dabei waren auch damals Rückschläge zu verkraften: Ursprünglich war eine Universität mit 10.000 Studierenden vorgesehen, was aber wegen der Finanzsituation und der Konkurrenzgründung in Bamberg schnell auf 5000 Studienplätze reduziert wurde. Die Konkurrenz zwischen den Städten, die sich um Universitäten bemühten, wurde mit harten Bandagen geführt. In der Presse war vom „Oberfränkischen Städtekrieg“ die Rede. „Begeisterung und lodernde Freude […] will nach dem sechsjährigen verbissenen Ringen nicht mehr aufkommen“, schreibt Oberbürgermeister Hans Walter Wild in seinen Erinnerungen über den Tag vor 50 Jahren, als unsere Universität feierlich eröffnet wurde.⁴
Die Strukturkommission, die mit der Entwicklung eines Grundkonzeptes für die Universität Bayreuth beschäftigt war, arbeitete aber im Hintergrund konstruktiv und reibungslos – ich finde das wie gesagt beeindruckend. Der Aufbau einer neuen Universität war und blieb das Ziel. Es ging um Inhalte, um die Frage, welche Themen und Fächer als zukunftsträchtig für die Wissenschaft und für die Stadt erachtet wurden. Neben dem Vorsitzenden Wolfgang Wild spielte dabei Hans Dieter Wolff eine entscheidende Rolle, der 1973 zum Gründungspräsidenten unserer Universität gewählt wurde.
² Winfried Müller u. a., „‚Vor uns liegt ein Bildungszeitalter‘. Umbau und Expansion des bayerischen Bildungs-systems 1950-1973“, in Die Erschließung des Landes 1949 Bis 1973, 1st ed, hg. von Thomas Schlemmer und Hans Woller, Quellen und Darstellungen Zur Zeitgeschichte 52 (Walter de Gruyter GmbH, 2001).
³ Fritz W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa (Campus-Verl., 1987), 179.
⁴ Wild, Hans Walter. Denk ich an damals... Bayreuths Weg zur Universität. Druckhaus, 1995, S. 290
Zuversicht, Optimismus und Aufbauwille allein reichen aber für die Neugründung einer Universität nicht aus. Die Strukturkommission hatte noch etwas anderes, sie hatte einen sehr guten und vor allem – wie wir heute wissen – einen sehr zukunftsträchtigen Plan.
Der Plan der Strukturkommission war sehr viel besser. Die bayerische Staatsregierung hatte damals lediglich den allgemeinen Auftrag formuliert, durch die Universitätsgründung die Abwanderung von Abiturienten aus dem ländlichen Raum zu verhindern.⁵ Außerdem sollte die Universität von Anfang an einen Schwerpunkt in den Naturwissenschaften haben. Die Ausarbeitung der Details wurde aber dem Strukturbeirat überlassen, der in rund 30 Sitzungen über einen Zeitraum von etwas mehr als drei Jahren ein Grundkonzept entwickelte, das das Gesicht unserer Universität bis heute prägt.
Die vier inhaltlichen Schwerpunkte, die damals festgelegt worden sind, möchte ich kurz vorstellen – und zwar in der Reihenfolge, wie sie im Strukturbeirat besprochen worden sind:
Ein naturwissenschaftlicher Schwerpunkt war – wie gesagt – vorab schon festgelegt worden. Die Berufung des Physikprofessors von der TU München, Wolfgang Wild, erfolgte also nicht primär, weil dieser in Bayreuth geboren worden war, sondern um den naturwissenschaftlichen Schwerpunkt zu lancieren. Maßgeblich auf seine Initiative wurde die „Makromolekülforschung“ als erster Schwerpunkt der Universität festgelegt, ein Forschungszweig im Grenzbereich von Physik und Chemie, der die Methoden der Physik und die Anwendungsgebiete der Chemie verbinden sollte.⁶ 1984 wurde aus diesem Forschungsfeld heraus ein DFG-Sonderforschungsbereich eingeworben. Es folgten weitere Sonderforschungsbereiche, Graduiertenprogramme und 2010 wurde die Polymerforschung, die aus diesem Schwerpunkt hervorgegangen ist, in einem eigenen Gebäude gebündelt.
Als zweiter Schwerpunkt wurde die „Ökosystemforschung“ identifiziert, ebenfalls ein interdisziplinäres Feld, bei dem Chemiker, Biologen, Geowissenschaftler und Geographen zusammenarbeiteten. Mit dem Begriff der „Ökosystemforschung“ sollte eine ganzheitliche Betrachtung von geographischen Räumen zur Grundlage der Forschung gemacht werden. Das lag durchaus im Zeitgeist der damals entstehenden Umweltbewegung, so dass mit dieser Festlegung auch Widerstände überwunden werden mussten.⁷ Der erste Sonderforschungsbereich an der Universität Bayreuth überhaupt, „Gesetzmäßigkeiten und Strategien des Stoffumsatzes in ökologischen Systemen“ (damals hatten selbst naturwissenschaftliche Sonderforschungsbereiche noch deutsche Titel) ging 1981 gerade aus diesem Forschungsbereich hervor. Es folgten weitere und 1994 die Fertigstellung des „Bayerischen Geoinstituts“, das heute ein zuverlässiger Garant für hochkarätige wissenschaftliche Publikationen und die weltweite Anerkennung unserer Universität geworden ist.
Die Idee zur Einrichtung des Studiengangs Wirtschaftsjurist möchte ich als einen dritten wichtigen und vor allem zukunftsweisenden Schwerpunkt im Gründungsplan der Strukturkommission bezeichnen. Ursprünglich war für die Universität keine rechtswissenschaftliche Fakultät vorgesehen und die Ministerialbürokratie – überwiegend Juristen – stand dieser Idee daher skeptisch gegenüber.⁸ Aber die Einrichtung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und des interdisziplinären Studiengangs des Wirtschaftsjuristen schuf nicht nur die bis heute mit Abstand größte Fakultät unserer Universität. Sie verkörpert die Idee der Einrichtung interdisziplinärer Studiengänge, die gleichzeitig auch in der Nachbarfakultät mit der Einrichtung des deutschlandweit ersten Studiengangs „Geoökologie“ verfolgt wurde. Weitere interdisziplinäre Studiengänge folgten, von der „Sportökonomie“ 1985, über den 2000 eingerichteten Studiengang „Philosophy and Economics“, der schnell deutschlandweit bekannt wurde, den Studiengang Gesundheitsökonomie, und schließlich die Umwelt- und Ressourcentechnologie, der Ingenieurwissenschaften, Biologie und Chemie verbindet.
Schließlich wurde als vierter Schwerpunkt die „Afrikawissenschaft“ in das Grundkonzept der Universität Bayreuth aufgenommen – damals noch unter dem Namen „Afrikanologie“, weil die Bayreuther sich von dem sprachwissenschaftlichen Begriff der „Afrikanistik“ abgrenzen wollten. In Bayreuth sollten nämlich von Beginn an auch andere Disziplinen einbezogen werden, die Geowissenschaft, die Geographie und die Rechtswissenschaften.⁹ 1984 erreichte auch die Afrikawissenschaft die Einrichtung eines Sonderforschungsbereiches, der den schlichten Titel „Identität in Afrika“ trug, was schon damals für lebhafte Diskussionen mit den Gutachtern gesorgt zu haben scheint. Und das Ergebnis dieser Anfänge ist bekannt: Bayreuth ist heute der vermutlich wichtigste Standort für die Afrikaforschung in Deutschland mit einem kürzlich verlängerten Exzellenzcluster „Africa Multiple“, einem neuen Forschungsgebäude und zweifellos mit weltweiter Strahlkraft.
Zu diesen Lehr- und Forschungsschwerpunkten sind seitdem viele weitere hinzugekommen – ich werde mich hüten, auch nur zu versuchen, sie alle aufzuzählen. Ich würde bestimmt etwas und jemanden vergessen.
Wichtiger scheint mir doch zu sein, dass in der Strukturkommission und mit der Gründung der Universität ein Erfolgsrezept geschaffen worden ist, mit einer erstaunlich langen „Halbwertzeit“. Das Eingangszitat von Wolfgang Wild weist darauf hin: Der Strukturbeirat legte keine „Universitätsideologie“ zugrunde, sondern entwickelte in einer interdisziplinär zusammengesetzten Gruppe von Wissenschaftlern bei weitgehender Abwesenheit von ministerieller Einflussnahme vier Schwerpunkte für die neue Universität, die ihrerseits die Zusammenarbeit von unterschiedlichen Disziplinen erforderlich machte. Das war in Bayreuth möglich, weil starre Disziplingrenzen und Verwaltungsstrukturen nicht existierten, sondern sich die erste Generation von Professoren und Professorinnen zu einer „Pioniergeneration“ zusammenfand, geeint durch das gemeinsame Interesse, etwas Neues aufzubauen.
⁵ „Niederschrift über die konstituierende Sitzung des Strukturbeirats für die Uni Bayreuth“, 26. Juli 1971, UAB ZUV 1/999. Sowie: „Brief des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus“ vom 8.1.1971 (Nr. I/13-5/165 503), der sich auf die Hochschulplanungskommission vom Mai 1970 stützt (zit. ebd.).
⁶ „Wolfgang Wild: Überlegungen zur Struktur der Universität Bayreuth“, 29. März 1971, UAB ZUV 1/999. In diesem Konzeptpapier, das noch vor der Konstituierung des Strukturbeirates verfasst worden ist und auf dessen 2. Sitzung diskutiert wurde, fällt der Begriff der „Makromolekülforschung“ noch nicht, sondern die Rede ist von „Theoretischer Chemie“.
⁷ Helmut Ruppert, Interview mit Karsten Kühnel 17.10.2013 (Teil 1), Seite 6, Universitätsarchiv.
⁸ Siehe hierzu das stellenweise vielleicht etwas heroische Interview mit Walter Schmidt Glaeser v. 14.5.2014, Universitätsarchiv, Seite: 4
⁹ Der Strukturbeirat hatte auf seiner 2. Sitzung auf der Grundlage eines nicht überlieferten Konzepts von „Prof. Richter“ von der Universität Göttingen die Einrichtung der „Afrikanistik“, die der Wissenschaftsrat vorgeschlagen hatte, noch explizit ausgeschlossen: „Niederschrift 2. Sitzung des Strukturbeirates für die Universität Bayreuth“. 5. November 1971. UAB ZUV 1/999. Nach den Unterlagen ist erst im Juli 1975 ein Konzeptpapier „Einrichtung eines Interdisziplinären Forschungsschwerpunktes Afrikanologie“ diskutiert und beschlossen worden. „Entwurf eines Memorandums zur Afrikanologie (zur 32. Sitzung des Strukturbeirates)“. 1. Juli 1975. UAB ZUV 587a.; „Niederschrift über die 32. Sitzung des Strukturbeirates für die Universität Bayreuth in Bayreuth“. 19. Juli 1975. UAB ZUV 1/999.
Nur 15 Jahre nach Gründung der Universität hat die Wiedervereinigung die Region Oberfranken und ganz Deutschland erheblich verändert. Die Universität Bayreuth stand plötzlich vor großen Herausforderungen: Da war einerseits der Ansturm von ostdeutschen Studierenden auf die westdeutschen Universitäten. Der Nordbayerische Kurier warnte vor einer „Studentenflut aus der DDR“ und rechnete mit 30.000 zusätzlichen Erstsemestern. „Die Ostuniversitäten müssen attraktiver werden“, hieß es in der Zeitung.¹⁰ Allein in Bayreuth stieg die Zahl der Studierenden innerhalb weniger Jahre von 6.500 auf fast 9.000 an.
Um die Kooperation mit den Universitäten auf dem Gebiet der DDR zu verbessern, ergriff der Bayreuther Gründungspräsident Klaus Dieter Wolff nur zwei Monate nach dem Mauerfall die Initiative und veranstaltete ein Treffen zwischen den nordbayerischen, thüringischen und sächsischen Universitäten auf Schloss Thurnau. Dabei wurde engere Kooperation vereinbart, Dozentenaustausch, Gastaufenthalte von Studierenden und schließlich die Kooperation in der Hochschulverwaltung. Das führte aber dazu, dass die Bayreuther Pioniergeneration – die sich ja beim Thema Aufbau einer neuen Hochschule gut auskannte – als Aufbauhelfer in Ostdeutschland gefragt war. Wolff selbst verließ die Universität Bayreuth nach 18 Jahren. Andere Kollegen folgten, zum Teil in einer zeit- und nervenaufreibenden Doppelrolle als Bayreuther Professor und Aufbauhelfer.
Eine andere große Herausforderung, die die deutschen Universitäten mittelfristig sehr viel stärker verändert hat, spielte sich eher im Stillen ab. Ich meine die digitale Revolution und insbesondere die Entstehung des Internet.¹¹ Die Wissenschaft war zu diesem Zeitpunkt aber schon stark verändert worden. Nehmen Sie zum Beispiel die Literaturbeschaffung: Als die Universität Bayreuth gegründet wurde, war der Aufbau einer wissenschaftlichen Bibliothek noch ein Riesenthema. Ohne eine leistungsfähige Bibliothek und einen zumindest rudimentären Buchbestand vor Ort war eine Universität in den 1970er Jahren undenkbar. Heute haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Bayreuth Zugriff auf alle erdenklichen digitalen Ressourcen rund um die Welt und es gehört zu den wichtigen Aufgaben unserer Bibliothek, diesen Zugriff zu organisieren.
Gerade den jüngeren Wissenschaftsstandorten wie Bayreuth hat die Internetrevolution seit den 1990er Jahren erheblich geholfen. Aber sie verstärkte auch die wissenschaftliche Konkurrenz. Von der Ruhe der Pionierphase der Universität Bayreuth als einer „Grenzlanduniversität“ – so der zeitgenössische Ausdruck – als alle Professoren mit ihren Familien noch in zwei Busse passten und gemeinsam Ausflüge unternahmen, war nach der Jahrtausendwende nicht mehr viel übrig.
Die Universität Bayreuth ging daher neue Wege. Die Gründung der „Fakultät für Angewandte Naturwissenschaften“ ging aus dieser Phase hervor, wobei wieder die Interdisziplinarität als Erfolgsrezept zum Einsatz kam. Aus der Verbindung zwischen den Ingenieurwissenschaften mit dem Bayreuther Schwerpunkt in der Polymerforschung sind die Materialwissenschaften hervorgegangen, die heute ebenfalls zu unseren Flaggschiffen zählen. Und wenn die Gründung der siebten Fakultät in Kulmbach vor zehn Jahren auch eine ganz andere Geschichte hatte, so stand am Anfang wiederum ein wissenschaftliches Programm, in dem das Bayreuther Erfolgsrezept zur Anwendung kam: nämlich die interdisziplinäre Verbindung von Lebensmittelchemie mit anderen Life Sciences. Die Fakultät wird einmal zu zwei Dritteln aus naturwissenschaftlichen und zu einem Drittel aus rechts- und sozialwissenschaftlichen Fächern bestehen.
¹⁰ „Studentenflut aus der DDR, Nordbayerischer Kurier“, 14. Februar 1990, Uni Archiv Bayreuth.
¹¹ E-Mail und Internet sind zwar schon in den 1960er Jahren „erfunden“ worden, als an kalifornischen Universitäten die ersten Rechner vernetzt wurden. Die erste e-Mail in Deutschland erhielt 1984 ein Forscher der Uni Karlsruhe und erst 1989 wurde das öffentlich zugängliche World Wide Web begonnen.
Die Wissenschaft hat sich in den letzten 50 Jahren sehr stark verändert und damit auch die Universität Bayreuth. Rund 12.000 Menschen studieren heute an der Universität Bayreuth, 2700 Menschen arbeiten dort. Wir sind nicht nur größer geworden, sondern auch sichtbarer und auch einflussreicher. Wir stehen dabei vor ganz neuen Herausforderungen als vor fünfzig Jahren, ja vielleicht sogar als noch vor zehn Jahren. Welche Herausforderungen sind das? Und wie kann uns unsere Gründungsgeschichte und das Erfolgsrezept der Universität Bayreuth möglicherweise dabei helfen, diese Herausforderungen besser zu bewältigen?
Zwei Herausforderungen möchte ich zum Schluss konkret benennen.
1. Mit der Veränderung der Wissenschaften hat sich der Arbeitsalltag von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den letzten Jahren sehr stark verändert. Wolfgang Wild, den ich eingangs bereits zitiert habe, beklagte schon 1989, dass an den Universitäten „geistsprühende Forscher“ durch bloße „Lehrfunktionäre“ ersetzt worden seien und die kreative Atmosphäre einem „farblosen Funktionalismus“ gewichen sei.¹² Das scheint mir ein Stück weit eine Verklärung der Universität der 1960er Jahre zu sein und natürlich gibt es in Bayreuth auch heute noch „geistsprühende“ Forscherinnen und Forscher und auch viel Farbe.
Aber im Arbeitsalltag wird der Raum für kreative wissenschaftliche Betätigung in allen Fächern tatsächlich immer weiter eingeschränkt: Das ist einerseits ein Ergebnis einer zunehmenden Bürokratisierung der Wissenschaftsverwaltung auf allen Ebenen, von der Dienstreisegenehmigung bis zur Genehmigung von Laborversuchen oder der Anschaffung von Maschinen.¹³ Andererseits hat sich der wissenschaftliche Produktionsprozess selbst bürokratisiert: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Bayreuth und im Rest der Welt sind heute eigentlich permanent mit der Abfassung von Gutachten beschäftigt – für unsere Fachzeitschriften, für Förderinstitutionen wie die DFG, für Studierende, die sich um Positionen im Ausland bewerben usw. Einer Befragung des Deutschen Hochschulverbands zufolge verbringen Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heute die Hälfte ihrer Arbeitszeit mit solchen Verwaltungstätigkeiten. Nur die Hälfte der Arbeitszeit kann heute noch in Forschung und Lehre investiert werden, wofür wir ja eigentlich eingestellt sind. 1977 machten Forschung und Lehre noch 72 % der Wochenarbeitszeit von Hochschullehrern aus.¹⁴
Ich meine, dass sich im anfangs beschriebenen Erfolgsrezept der Universität Bayreuth eine Lösung für diese Problematik finden lässt. Die Strukturkommission und die Pioniergeneration setzten auf die kreativen Ergebnisse in einem weitgehend unregulierten interdisziplinären Austausch. Es ging nicht nur um die Setzung von Schwerpunkten selbst und die wissenschaftliche „Profilbildung“, sondern zugleich um den Prozess der Weiterentwicklung dieser Schwerpunkte, der hiermit installiert wurde. Unsere Gründungsväter hatten Vertrauen in die Tätigkeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und dieses Vertrauen war letztlich die Quelle von Kreativität und Innovation. Wenn wir es in Bayreuth schaffen könnten, dieses Vertrauen wieder stärker hervorzuheben und es vielleicht sogar an die Stelle von bürokratischer Kontrolle treten zu lassen, dann bin ich überzeugt, würde in Zukunft so mancher „geistsprühende Forscher“ (und Forscherinnen) selbst traditionsreichen, großen Standorten den Rücken kehren.
2. Das hilft übrigens auch bei der zweiten Herausforderung unserer Gegenwart: die abnehmende Begeisterung der jungen Menschen für die Wissenschaft. Wir haben ganz wunderbare Studierende an der Universität Bayreuth und in allen Fächern finden wir weiterhin begeisterungsfähige junge Menschen. Aber die jungen Leute kommen nicht mehr automatisch und zwangsläufig zu uns. Das war in den 1970er Jahren noch vollständig anders. Damals führte der soziale Aufstieg für die allermeisten über den Bildungsaufstieg. Heute dagegen stammen mehr als die Hälfte der Studienanfänger aus Elternhäusern, in denen mindestens ein Elternteil selbst einen Hochschulabschluss hat.¹⁵ Das Hochschulstudium wird heute nicht mehr als ein Garant für einen sozialen Aufstieg angesehen. Dieser kann – so sehen es viele junge Menschen – schneller und mit weniger Anstrengung auf anderem Weg erreicht werden, als „Influencer“ zum Beispiel.
Selbst wenn sich junge Menschen für ein Hochschulstudium entscheiden, dann wählen sie häufig nicht eine klassische Universität wie die Universität Bayreuth mit Präsenzlehre und Campusleben, sondern digitale Studienangebote. Die am schnellsten wachsende Universität in Deutschland ist heute die private „International University“. Diese hatte vor der Corona-Krise gerade einmal 30.000 Studierende und ist seitdem auf 130.000 Studierende gewachsen – die größte Universität Deutschlands. Die Studierenden wohnen zuhause – das ist günstig und bequem – und studieren am Computer oder gleich am Handy.
Wie können wir es also schaffen, in einem solchen Kontext die jungen Menschen für die Wissenschaft zu begeistern? Das ist möglicherweise die größte Herausforderung für die Universität heute. Wir müssen überzeugen, dass die Lösungen für die gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart (von der Klimakrise bis zur Wirtschaftskrise) in den Wissenschaften liegen. Wir müssen zeigen, dass es in den Wissenschaften um die Suche von Lösungen geht. Viel zu häufig befasst sich die Wissenschaft mit sich selbst und es geht nicht um die Inhalte und den Gegenstand. Wir müssen den Versuchen, die Wissenschaften zu politisieren oder zu diskreditieren, entgegentreten. Unsere Lehrveranstaltungen müssen besser sein als das, was die Studierenden durch eine kurze Internetrecherche oder durch die Benutzung einer Künstlichen Intelligenz selbst herausfinden – und das jede Woche und jeden Tag.
Kurz: Wir müssen es schaffen, dass die Universität ein Ort voller Neugier ist, an dem junge Menschen sich ausprobieren können, an dem auch Fehler gemacht werden können und der geeint ist in dem Wunsch, die Zukunft zu gestalten, anstatt sich von den weltpolitischen Krisen treiben zu lassen.
Hierfür steht die Gründungsgeschichte der Universität Bayreuth, so wie wir sie heute feiern können.
¹² Wolfgang Wild, Begreifen und Gestalten. Wissenschaft verändert unser Leben (Busse Seewald, 1989), 42.
¹³ Auer, Marietta u. a., „Es brauch schlicht Mut“, Forschung & Lehre 25 (2025): 24–26.
¹⁴ Artikel vom 12.2.2020; https://www.forschung-und-lehre.de/politik/hochschullehrer-beklagen-zunehmende-buerokratie-2525
¹⁵ Bezogen auf das Jahr 2021. BMBF: Bildung in Deutschland 2024, S. 218.
* Ich danke Prof. Dr. Helmut Ruppert und Prof. Dr. Walter Zimmermann für die kritische Lektüre der ersten Fassungen des Textes und Frau Dr. Witowski für die große Unterstützung der Archivrecherchen.
¹ „Material zur Vorbereitung des Besuchs des Ausschusses für Hochschulausbau des Wissenschaftsrates bei der Universität Bayreuth“, 7. November 1975, Universitätsarchiv Bayreuth (= UAB), XI/2/1.