Universität Bayreuth, Pressemitteilung Nr. 128/2024 vom 19.11.2024
Tieferes Verständnis der Physik komplexer Flüssigkeiten
Forschende der Universität Bayreuth haben durch eine grundlegende Erweiterung von Dichtefunktionaltheorie und die Entdeckung einer bisher verborgenen Eichinvarianz zu einem umfassenderen Verständnis weicher Materie, wie Flüssigkeiten und Gele, beigetragen. Neue „Hyperdichtefunktionale“ ermöglichen das systematische Studium von fundamentalen physikalischen Mechanismen für Strukturbildung und neue Gleichungen liefern Einblicke in die zugrundeliegenden Kräfte. Die Forschung wurde mit drei “Editors’ Suggestions” ausgezeichnet.
What for?
Ein zentrales modernes Paradigma der Physik ist das Entstehen von kollektivem makroskopischem Verhalten aus einem tieferliegenden Zusammenspiel von zahlreichen individuellen mikroskopischen Komponenten. Ein Beispiel dafür ist eine Flüssigkeit, deren Moleküle sich zu einem Gel organisieren können, indem miteinander eng verbundene Gruppen von Teilchen mechanische Stabilität erzeugen. Ein physikalisches Verständnis für solche Strukturbildung zu gewinnen, ist perspektivisch wichtig für die Entwicklung von industriellen Produkten wie Lacken und Beschichtungen, aber auch zum Verständnis natürlicher Phänomene und biologischer Prozesse.
Eine Methode zur quantitativen Beschreibung komplexer Systeme wie Flüssigkeiten ist die Dichtefunktionaltheorie. Diese ermöglicht es, die Wechselwirkungen von vielen mikroskopischen Teilchen untereinander effizient zu erfassen. Jedoch hat die Dichtefunktionaltheorie Einschränkungen und nicht alle Größen, die für die Beschreibung komplexer Systeme nötig und nützlich sind, können mit ihr direkt berechnet werden. Für die praktische Anwendung sowie für ein tieferes Verständnis haben Dr. Florian Sammüller und Doktorandin Johanna Müller am Lehrstuhl für Theoretische Physik II von Prof. Dr. Matthias Schmidt an der Universität Bayreuth wesentliche Beiträge geleistet.
Die Generalisierung des Dichtefunktionalkonzeptes mithilfe einer Kombination aus Theorie, numerischen Methoden und maschinellem Lernen erlaubt die Betrachtung von beliebigen Größen, beispielsweise der Anzahl von miteinander verbundenen Teilchen in Gelen. Sogenannte Hyperdichtefunktionale ermöglichen das systematische Studium von physikalischen Mechanismen, die zur Strukturbildung führen. Durch neue Methoden des maschinellen Lernens sind Hyperdichtefunktionale konkret als neuronale Netzwerke am Computer zugänglich. Die zum Training nötigen Informationen über das betrachtete physikalische System sind dabei hochgenau, da diese aus Simulationsarbeiten gewonnen werden und jedes einzelne Teilchen im System dargestellt werden kann.
Julia Lang/Sabrina Süß
Die statistische Beschreibung aller Teilchen in einem komplexen System geht einher mit einer fundamentalen Eichinvarianz: Sie beschreibt die Eigenschaft, dass die physikalischen Gesetze unverändert bleiben, wenn bestimmte mathematische Änderungen auf die Größen angewendet werden, die das System beschreiben. Unerwartet haben die Forschenden aus Bayreuth eine völlig analoge mathematische Struktur für Teilchen entdeckt, inklusive einer bisher unbekannten, von Johanna Müller identifizierten Lie-Algebra, die eine antisymmetrische Verknüpfung beschreibt. Hierbei bleibt der Mittelwert jeder möglichen Messgröße gleich, unabhängig von bestimmten Verschiebungen aller Teilchen im Raum, deren Größe und Richtung an jedem Messpunkt anders sein kann.
Dr. Florian Sammüller, der die neuronale Dichtefunktionaltheorie in der Forschung etabliert hat, erklärt: „Es ist bemerkenswert, wie gut sich die theoretischen Erkenntnisse mit numerischen Methoden kombinieren lassen. Auf der einen Seite steht dabei die Dichte- und Hyperdichtefunktionaltheorie, welche sich mit der Existenz und den mathematischen Eigenschaften von abstrakten funktionalen Abbildungen befasst. Demgegenüber erlauben Vielteilchensimulationen ein intuitiveres Verständnis einer betrachteten Flüssigkeit, da sich die Bewegung einzelner Teilchen direkt verfolgen lässt – wie bei Experimenten mithilfe eines Mikroskops. Als Bindeglied zwischen den beiden Herangehensweisen sind Methoden des maschinellen Lernens und insbesondere neuronale Netzwerke bestens geeignet, da sie die zugrundeliegenden funktionalen Zusammenhänge aus den numerischen Simulationsdaten extrahieren und repräsentieren können.“
Originalpublikationen:
Hyperdensity functional theory of soft matter. Florian Sammüller, Silas Robitschko, Sophie Hermann, Matthias Schmidt. Physical Review Letters, 133: 098201 (2024) Editors' Suggestion; DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.133.098201
Gauge invariance of equilibrium statistical mechanics. Johanna Müller, Sophie Hermann, Florian Sammüller, Matthias Schmidt. Physical Review Letters, 133:217101 (2024), Editors' Suggestion, Featured in Physics; DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.133.217101
Neural density functionals: Local learning and pair-correlation matching. Florian Sammüller, Matthias Schmidt. Physical Review E, 110: L032601 (2024) Editors' Suggestion; DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevE.110.L032601
Why gauge invariance applies to statistical mechanics. Johanna Müller, Florian Sammüller, and Matthias Schmidt. arXiv:2409.14166s ; DOI: https://doi.org/10.48550/arXiv.2409.14166
Why hyperdensity functionals describe any equilibrium observable. Florian Sammüller and Matthias Schmidt. arXiv.2410.10534; DOI: https://doi.org/10.48550/arXiv.2410.10534
Prof. Dr. Matthias SchmidtTheoretische Physik II
Universität Bayreuth
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Telefon: +49 (0)921 / 55-3313
E-Mail: matthias.schmidt@uni-bayreuth.de
www.mschmidt.uni-bayreuth.de
Anja-Maria MeisterPressesprecherin Universität Bayreuth
Telefon: +49 (0)921 / 55-5300
E-Mail: anja.meister@uni-bayreuth.de