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Universität Bayreuth, Pressemitteilung Nr. 077/2023 vom 07.06.2023

Bayreuther Physiker*innen entwickeln leistungsstarke Alternative zur dynamischen Dichtefunktionaltheorie

Lebende Organismen, Ökosysteme und der Planet Erde sind, vom Standpunkt der Physik betrachtet, Beispiele für außerordentlich große und komplexe Systeme, die sich nicht im thermischen Gleichgewicht befinden. Um Nichtgleichgewichtssysteme physikalisch zu beschreiben, wird bisher die dynamische Dichtefunktionaltheorie angewendet. Diese Theorie hat jedoch Schwächen, wie Physiker*innen der Universität Bayreuth jetzt im „Journal of Physics: Condensed Matter“ zeigen. Als leistungsstärker erweist sich die Powerfunktionaltheorie: In Kombination mit Methoden der Künstlichen Intelligenz ermöglicht sie zuverlässigere Beschreibungen und Prognosen der Dynamik von Nichtgleichgewichtssystemen im Zeitverlauf.

Vielteilchensysteme sind alle Systeme, die sich aus Atomen, Elektronen, Molekülen und anderen für das Auge unsichtbaren Teilchen zusammensetzen. Sie befinden sich im thermischen Gleichgewicht, wenn die Temperatur in ihrem Inneren ausgeglichen ist und keine Wärmeflüsse stattfinden. Ein System im thermischen Gleichgewicht ändert seinen Zustand nur dann, wenn sich äußere Rahmenbedingungen ändern. Die Dichtefunktionaltheorie ist für die Erforschung derartiger Systeme geradezu maßgeschneidert. Seit mehr als einem halben Jahrhundert hat sie sich in der Chemie und der Materialwissenschaft uneingeschränkt bewährt: Auf der Grundlage einer leistungsfähigen klassischen Variante dieser Theorie können Zustände von Gleichgewichtssystemen mit hoher Genauigkeit beschrieben und vorhergesagt werden. Die dynamische Dichtefunktionaltheorie (DDFT) weitet nun den Anwendungsbereich dieser Theorie auf Nichtgleichgewichtssysteme aus: Dabei geht es um das physikalische Verständnis von Systemen, deren Zustände nicht durch ihre äußeren Rahmenbedingungen festgelegt sind. Diese Systeme besitzen eine Eigendynamik: Sie haben die Fähigkeit, ihre Zustände aus sich selbst heraus – ohne dass äußere Einflüsse auf sie einwirken – zu ändern. Erkenntnisse und Anwendungsverfahren der DDFT sind daher beispielsweise für die Erforschung lebender Organismen oder mikroskopischer Strömungen von großem Interesse.

Illustration einer geradlinigen Strömung, wie sie in der neuen Studie am Beispiel eines Lennard-Jones-Fluids untersucht wurde. Das dreidimensionale Nichtgleichgewichtssystem wird in Bewegung gesetzt (rote Pfeile) durch ein Kraftfeld (blaue Pfeile), das entlang der x-Achse wirkt.

Das Fehlerpotenzial der dynamischen Dichtefunktionaltheorie
Die DDFT bedient sich allerdings einer Hilfskonstruktion, damit Nichtgleichgewichtssysteme einer physikalischen Beschreibung zugänglich werden: Sie übersetzt die kontinuierliche Dynamik dieser Systeme in eine zeitliche Abfolge von Gleichgewichtszuständen. Daraus ergibt sich ein nicht zu unterschätzendes Fehlerpotenzial, wie das Bayreuther Team unter der Leitung von Prof. Dr. Matthias Schmidt in der neuen Studie zeigt. Die Untersuchungen konzentrierten sich auf ein vergleichsweise einfaches Beispiel: die geradlinige Strömung eines Gases, das in der Physik als „Lennard-Jones-Fluid“ bezeichnet wird. Wenn dieses Nichtgleichgewichtssystem als eine Kette aufeinander folgender Gleichgewichtszustände interpretiert wird, dann wird ein Faktor vernachlässigt, der an der zeitabhängigen Dynamik des Systems mitbeteiligt ist, nämlich das Strömungsfeld. Infolgedessen liefert die DDFT möglicherweise ungenaue Beschreibungen und Prognosen.

„Wir bestreiten nicht, dass die dynamische Dichtefunktionaltheorie wertvolle Erkenntnisse und Anregungen liefern kann, wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen auf Nichtgleichgewichtssysteme angewendet wird. Das Problem ist aber, und darauf wollen wir in unserer Studie am Beispiel der Fluidströmung aufmerksam machen, dass sich nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmen lässt, ob diese Voraussetzungen im jeweiligen Einzelfall gegeben sind. Die DDFT bietet keine Kontrolle darüber, ob die eingeschränkten Rahmenbedingungen erfüllt sind, unter denen sie zuverlässige Berechnungen ermöglicht. Umso mehr lohnt es sich, für das Verständnis von Nichtgleichgewichtssystemen alternative theoretische Konzepte zu entwickeln“, sagt Prof. Dr. Daniel de las Heras, Erstautor der Studie.

Die Powerfunktionaltheorie als leistungsstarke Alternative
Seit zehn Jahren leistet das Forschungsteam um Prof. Dr. Matthias Schmidt wesentliche Beiträge zur Ausarbeitung einer noch jungen physikalischen Theorie, die sich bei der physikalischen Erforschung von Vielteilchensystemen bisher als sehr erfolgreich erwiesen hat: die Powerfunktionaltheorie (PFT). Die Bayreuther Physiker*innen verfolgen dabei das Ziel, die Dynamik von Nichtgleichgewichtssystemen mit der gleichen Präzision und Eleganz beschreiben zu können, mit der die klassische Dichtefunktionaltheorie die Analyse von Gleichgewichtssystemen ermöglicht. In ihrer neuen Studie zeigen sie nun am Beispiel der Fluidströmung, dass die Powerfunktionaltheorie der DDFT signifikant überlegen ist, wenn es um das Verständnis von Nichtgleichgewichtssystemen geht: Die PFT erlaubt eine Beschreibung der Dynamik dieser Systeme, ohne den Umweg über eine Kette zeitlich aufeinander folgender Gleichgewichtszustände gehen zu müssen. Entscheidend ist dabei der Einsatz künstlicher Intelligenz: Maschinelles Lernen erschließt das zeitabhängige Verhalten der Fluidströmung, indem alle für die Eigendynamik des Systems relevanten Faktoren – einschließlich des Strömungsfelds – einbezogen werden. Auf diese Weise ist es dem Team sogar gelungen, die Strömung des Lennard-Jones-Fluids mit hoher Präzision zu steuern.

„Unsere Untersuchung liefert erneut Belege dafür, dass es sich bei der Powerfunktionaltheorie um ein sehr vielversprechendes Konzept handelt, mit der sich die Dynamik von Vielteilchensystemen beschreiben und erklären lässt. In Bayreuth wollen wir diese Theorie in den nächsten Jahren weiter ausarbeiten und dabei auf Nichtgleichgewichtssysteme anwenden, die einen deutlich höheren Komplexitätsgrad haben als die von uns untersuchte Fluidströmung. Auf diese Weise wird die PFT an die Stelle der dynamischen Dichtefunktionaltheorie treten können, deren systemische Schwächen sie nach unseren bisherigen Erkenntnissen vermeidet. Die ursprüngliche, auf Gleichgewichtssysteme zugeschnittene und bewährte Dichtefunktionaltheorie bleibt dabei als theoretisch eleganter Sonderfall der PFT erhalten“, sagt Prof. Dr. Matthias Schmidt, Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Physik II an der Universität Bayreuth.

Veröffentlichung:
Daniel de las Heras, Toni Zimmermann, Florian Sammüller, Sophie Hermann and Matthias Schmidt: Perspective: How to overcome dynamical density functional theory. Journal of Physics: Condensed Matter (2023), Vol. 35, No. 27, 271501, DOI: https://dx.doi.org/10.1088/1361-648X/accb33

Weitere Informationen:
https://www.mschmidt.uni-bayreuth.de/perspective2023.html
https://twitter.com/i/status/1661758248800645122
Video: https://twitter.com/JPhysCM/status/1661758248800645122

Prof. Dr. Matthias Schmidt

Prof. Dr. Matthias Schmidt

Theoretische Physik II

Christian Wißler

Christian Wißler

Stellv. Pressesprecher, Wissenschaftskommunikation der Universität Bayreuth

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