Universität Bayreuth, Pressemitteilung Nr. 040/2022 vom 25.3.2022

Expertin der Universität Bayreuth: Wann die Bereitschaft schwindet, Flüchtlinge aufzunehmen.

Prof. Dr. Susanne Lachenicht ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth und beschäftigt sich mit den historischen Dimensionen von Migration und Flucht. Lachenicht erläutert im Interview, wann die positive Stimmung der Hilfsbereitschaft in aufnehmenden Ländern zu kippen droht. Denn: So unterschiedlich Flüchtlingskrisen sein mögen, Kipppunkte gibt es immer.

UBT: Erleben wir jetzt Parallelen zu 2015, als auch tausende Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen?
Lachenicht: "2015 war in Deutschland ja zunächst auch von einer sehr großen Hilfsbereitschaft vieler Menschen geprägt, von einer überwältigenden Willkommenskultur – zum großen Erstaunen aller Nachbarländer, von denen viele von Anfang sehr skeptisch waren und einen Verteilungsschlüssel für die Aufnahme von Geflüchteten in der EU blockierten. Xenophob, rassistisch oder sexistisch motivierte Stereotype und Vorurteile gegenüber muslimischen und männlichen Geflüchteten entwickelten sich dann als dominanter medialer und öffentlicher Diskurs, vor allem nach der Silvesternacht 2015/16, als es in Köln zu sexualisierter Gewalt durch Migranten kam. Medial und diskursiv ist das sicherlich ein Kipppunkt gewesen, wie er in sogenannten Flüchtlingskrisen häufig vorkommt: die Entwicklung von anfänglich großer Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtenden im Sinne von Gastfreundschaft, Mitgefühl, Barmherzigkeit hin zu Ängsten, Xenophobie, Ablehnung, Abschottung oder Gewalt"

Warum ist die Hilfsbereitschaft in Deutschland jetzt gefühlt größer als 2015? 
"Die Gründe für die aktuelle Hilfsbereitschaft sind sicher andere: Der Krieg ist näher. Er fühlt sich für viele als unmittelbarere Bedrohung an, nicht zuletzt auch, da immer wieder die mögliche Ausweitung des Krieges auf andere Staaten, auch Nato-Staaten beschworen wird. Das mobilisiert, zumindest für einige Zeit, die Bereitschaft zu helfen. Solidarität und Hilfsbereitschaft helfen auch gegen die eigenen Ängste. Die Medienberichterstattung ist anders als 2015. Man kann geradezu im Live-Ticker Krieg und Flucht verfolgen – zumindest suggerieren das öffentliche Medien bzw. Social Media. Auch dadurch entsteht mehr Nähe, mehr Angst, mehr Versuche, Menschen zu helfen. Was wirklich in der Ukraine und auf der Flucht passiert, ist nur schwer zu sagen."

Macht es einen Unterschied, ob orthodoxe oder katholische Ukrainer quasi in Nachbarländer fliehen oder Muslime vom afrikanischen Kontinent nach Europa?
"Es sollte keinen Unterschied machen. Das Leid derer, die beispielsweise aus dem von Russland bombardierten Aleppo kamen, ist das gleiche Leid wie derjenigen, die aus Mariupol oder aus Kiew flüchten. Und 2015 wurden zunächst ja alle mit offenen Armen empfangen. Als Migrationsforscherin hat man aktuell Sorge vor dem nächsten Kipppunkt: wann die Bereitschaft schwindet, Menschen aus der Ukraine aufzunehmen. Wann es zur Entwicklung von Narrativen im Sinne von negativen Stereotypen gegenüber Ukrainer*innen kommt. Das Argument, dass Gesellschaften sich leichter mit der Aufnahme von Flüchtenden tun, wenn es Frauen und Kinder sind, wenn sie uns 'näher' zu sein scheinen, wird in den letzten Wochen oft bemüht. Es gibt aber auch Xenophobie, Konflikte und Gewalt gegen Geflüchtete, wenn diese die gleiche Sprache sprechen, die gleiche Religion haben, es enge Verwandtschaftsbeziehungen gibt. Vertriebene wurden nach 1945 in Deutschland nicht wirklich mit offenen Armen empfangen. Ganz im Gegenteil."

Kann man solchen „Kippunkten“ vorbeugen“?
"Es muss – gerade in diesem Spannungsfeld – zu mehr Dialog in der Gesellschaft kommen. Keine Echokammern, in denen man sich bewegt, sondern eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Positionen im Sinne von Zuhören, Verstehen, Kompromisse Aushandeln."

Die Hilfsbereitschaft war überwältigend, als Studierende und Mitarbeiter*innen der Universität Bayreuth Anfang März zu Spenden für die Ukraine aufriefen.

Wäre es seitens Medien und Politik wichtig, Vorteile von Migration deutlicher zu machen?
"Aufnahmegesellschaften bekommen das, was die Herkunftsländer oft unwiderruflich verlieren und dadurch in noch schwerere Krisen geraten: meist junge Menschen, die in der Landwirtschaft, der Industrie, im Handwerk, im Dienstleistungssektor gearbeitet haben, die aber in den Aufnahmegesellschaften oft erst einmal in schlecht bezahlten Jobs unterkommen. Es kann mehr Innovation geben, mehr Unternehmertum: Statistiken zeigen, dass der Anteil von Unternehmensgründern bei Menschen mit Migrationshintergrund sehr hoch ist. Flüchtlinge können für die Aufnahmegesellschaften Bereicherung sein: ökonomisch, sozial, kulturell. Die Frage ist immer für wen konkret bzw. wie welche Gruppen das empfinden. Um nur ein paar mögliche und oft beschriebene Wirkungen zu nennen."

Was haben wir aus 2015/2016 gelernt? 
"Hoffentlich eine bessere Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Kommunen und dass es für Geflüchtete einen schnellen Zugang zu Arbeit, Sprache und Bildung und menschenwürdige Unterkunft geben muss. Dass wir langfristig denken müssen und alles daransetzen sollten, dass es möglichst bald dauerhaften Frieden nicht nur in der Ukraine geben muss. Es wird sich erst in den nächsten Wochen erweisen, ob wir wirklich dazu gelernt haben. Leider ist in den letzten Jahren weltweit viel zu wenig gegen die Ursachen für Flucht und Vertreibung getan worden. Eine stabile Friedensordnung scheint für Europa aktuell sehr weit weg. Wir bräuchten diese aber nicht nur für Europa, sondern für die Welt, auch wenn das sehr utopisch klingt. Und noch utopischer ist, dass wir endlich Klimakrise und Flucht zusammendenken und etwas gegen den Klimawandel und seine Folgen tun müssen. Denn dieser verstärkt politische und wirtschaftliche Krisen, die wiederum noch mehr Flucht hervorrufen."

Prof. Dr. Susanne Lachenicht ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth. Sie verbindet politische Geschichte, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte miteinander, um ein holistisches Verständnis von historischem Wandel und seinen Ursachen zu vermitteln.  

Kann man die aktuellen Ereignisse mit der Flucht im Winter 1944/45 aus dem Osten vergleichen?
"Sie meinen mit der Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Deutschen aus den so genannten Ostgebieten des Deutschen Reiches? Vergleichen kann man immer. Man sollte sich jedoch vor Gleichsetzungen hüten. Die Frage ist, was gewinnt man aus diesem Vergleich? Welche Erkenntnisse kann man erzielen? Welche Fragen will man damit beantworten? Historische Vergleiche werden aktuell oft für politische Statements bemüht, die in der Regel nicht dem Leid von Geflüchteten in Kriegen und Bürgerkriegen gerecht werden. Und auch keine Probleme lösen."

Reine Polemik also?
"Nein, Vergleiche werden auch oft angestellt, um eine nicht einschätzbare Bedrohung vermeintlich besser einschätzen zu können, um etwas Unfassbares in Worte zu fassen. Mir scheint, dass die aktuellen Vergleiche, die in Medien, der Politik oder auch im privaten Bereich zu den Vertriebenen und Displaced Persons in der Endphase des bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg(s) gezogen werden, eher in den Bereich des 'es erinnert viele Menschen daran' fallen, dass Krieg und Flucht aktuell individuelle und kollektive Ängste wachrufen. Ängste wie 'der Russe kommt', Ängste vor Bombenangriffen, Flucht und Vertreibung, Ängste vor Versorgungs- bzw. Hungerkrisen, aber auch Ängste, die mit der Zeit des Kalten Krieges verbunden sind: vor einem Dritten Weltkrieg, vor einer weltweiten nuklearen Katastrophe."

Was ist jetzt die Aufgabe von Migrationsforschung und Geschichtswissenschaft?
"Für Politik- und Geschichtswissenschaft geht es um die Analyse der Ursachen des Ukrainekrieges, wie es dazu kommen konnte, aber auch welche Geschichtsbilder bzw. -konstruktionen als Begründung oder Legitimation verwendet oder missbraucht werden. Welche Art von Geschichtsklitterung dazu führen kann, dass souveränen Staaten ihr Existenzrecht abgesprochen wird (obwohl dies der Ukraine 1991 ja auch von Russland garantiert worden war), dass Nationen nicht mehr als Nationen anerkannt werden."

Hilft das bei der Suche nach Lösungen für die Zukunft? 
"Der Blick in die unmittelbare, aber auch weiter zurückliegende Vergangenheit kann keine fertigen Lösungen 'ausgraben', aber dabei helfen, informierter über eine aktuelle politische Lösung nachzudenken und zu finden. Für die Migrationsforschung geht es immer darum, bei allen Unterschieden, die es bei Fluchtbewegungen gibt, strukturelle Gemeinsamkeiten, in Variation immer wieder vorkommende Probleme zu benennen: beispielsweise die oben genannten Kippmomente, wenn die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft, auf die Staaten angewiesen sind, nachlässt und staatliche Institutionen sehr viel stärker eingreifen müssen, um zu helfen und Integration Vorschub zu leisten."

Zur Person: 

Prof. Dr. Susanne Lachenicht ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth. Sie verbindet politische Geschichte, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte miteinander, um ein holistisches Verständnis von historischem Wandel und seinen Ursachen zu vermitteln. Neben der Frage nach nationalen Besonderheiten in vergleichender Perspektive beschäftigt sie sich in Forschung und Lehre ebenso mit transnationalen Fragestellungen. Speziell was Migrationsbewegungen angeht, hat sie sich mit unterschiedlichsten Epochen und Räumen befasst, um mehr Erkenntnisse über strukturelle Gemeinsamkeiten und Besonderheiten zu gewinnen. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Institut Convergences Migrations (Paris) und der Zeitschrift Diasporas (Toulouse) sowie des internationalen Panels Historicizing the Refugee Experience (Duisburg-Essen, GHI Washington). Publiziert hat sie zum Thema u.a. für Oxford Bibliographies: Atlantic History (OUP), das Refugee Studies Center in Oxford, für Brill, Cambridge University Press und Routledge. 

Welche Rolle spielen Nachbarschaft oder historische Verbindungen bei Fluchtbewegungen?
"Flüchtende gehen oft erst einmal dahin, wo es bereits verwandtschaftliche oder institutionelle Verbindungen gibt, auch sprachliche oder ethnische, wenn diese Gesellschaften bereit sind, Menschen aufzunehmen. Sie suchen aber auch dort Schutz, wo durch Städtepartnerschaften, Arbeit, Vereine oder Kirchengemeinschaften Verbindungen bestehen. Viele ehemalige Länder des Ostblocks verstehen sich als Schicksalsgemeinschaft, d.h. es sind Länder, die entweder Teil der Sowjetunion oder des Warschauer Pakts waren. Hier, d.h. in Polen, der Slowakei, Tschechien, Rumänien, Moldawien, ist die Solidarität mit den Opfern des russischen Überfalls auf die Ukraine aktuell besonders groß. Menschen, die vor Kriegen flüchten, versuchen häufig auch erst einmal in die unmittelbaren Nachbarländer zu gehen, da man auf ein baldiges Kriegsende und eine schnelle Rückkehr in die Heimat hofft."

Welche Wirkungen haben große Gruppen von Geflüchteten auf die aufnehmende Gesellschaft? 
"Migrationswissenschaftlich gesehen spielen hier eine Reihe von Faktoren eine Rolle, beispielsweise die Annahmen, Stereotype, Vorurteile der aufnehmenden Gesellschaften gegenüber Geflüchteten (und auch vice versa), die Auswirkungen von Kategorisierungen wie Geschlecht, Ethnie, Religion, Alter, Gesundheit. Eine wichtige Frage ist auch, wie prosperierend die aufnehmende Gesellschaft ist, wie Reichtum und Armut verteilt sind. Wichtig ist auch, wie lange eine so genannte Flüchtlingskrise andauert, wie viele Menschen kommen. Gibt es für alle genügend Arbeit und Wohnraum? Wie ist die gefühlte Situation? Fühlen sich soziale Gruppen in der Aufnahmegesellschaft gegenüber Geflüchteten benachteiligt?"

Das sind die Faktoren, die Wirkungen beeinflussen. Welche Wirkungen gibt es konkret? 
"Es kann zu Ängsten vor „Überfremdung“ kommen. Ängste, dass sich Gesellschaft verändert, dass es zu Umverteilungen kommen könnte. Politisch können fremdenfeindliche Parteien von diesen Ängsten profitieren. Pluralistisch, freiheitliche Demokratien können durch das Schüren dieser Ängste unter Druck kommen. Es kann gleichzeitig auch zu mehr Solidarität kommen. Zu mehr Hilfsbereitschaft, zu einem anderen Selbstverständnis, dass Pluralität ein Gewinn ist. Dass die/der Andere gar nicht so anders ist, selbst wenn sie/er einer anderen Religion, Ethnie oder Sprachfamilie angehört."

Gibt es historische Beispiele für Fluchtbewegungen, von denen alle Seiten profitieren?
"Seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten, wird das Beispiel der Hugenotten als Modellfall bemüht. Nach 1685, als der Protestantismus in Frankreich per Edikt verboten wurde, wanderten 150.000 bis 200.000 Hugenotten trotz Auswanderungsverbot aus. Sie galten und gelten als Bereicherung für die Aufnahmeländer, ökonomisch, kulturell, militärisch. Trotzdem kam es in vielen Einwanderungsgesellschaften zu Fremdenfeindlichkeit, zu Aufnahmestopps, zu massiven Konflikten zwischen 'Einheimischen' und 'Fremden'. Aufnahme und Integration zogen sich hier über fast 150 Jahre hin. Heute gelten Hugenotten in fast allen früheren Aufnahmestaaten als 'Vorzeigeflüchtlinge'. Menschen in den USA, Deutschland, Großbritannien oder Südafrika sind stolz, wenn sie hugenottische Vorfahren haben."

Prof. Dr. Susanne Lachenicht

Prof. Dr. Susanne Lachenicht

Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit

Telefon: +49 (0)921 / 55-4190
E-Mail: susanne.lachenicht@uni-bayreuth.de
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Anja-Maria MeisterPressesprecherin Universität Bayreuth

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