Die Forscher*innen haben ihren Simulationen am Rechner ein neuromuskuläres Modell zugrunde gelegt, bei dem die Muskeln allein durch Reflexe stimuliert werden. Mit diesem Modell können Effekte der „Low-Level-Strategie“ isoliert dargestellt werden. Wie sich herausstellte, ist mit dieser Strategie eine effiziente, unfallvermeidende Anpassung des Gehens an einen plötzlich tieferen Untergrund nur gewährleistet, wenn der Höhenunterschied drei Zentimeter nicht übersteigt. Bordsteinkanten sind jedoch in der Regel fünf bis 12 Zentimeter hoch. Offenbar reicht eine nur auf Reflexen aufbauende Kontrollstrategie nicht aus, um Stürze zu vermeiden. Daher wurde dieses Modell im Rahmen der Studie um eine zusätzliche antizipative Strategie ergänzt. Die Computersimulationen zeigten jetzt signifikante Fortschritte: Mit der Kombination einer High-Level- und einer Low-Level-Strategie ist gewährleistet, dass Höhenunterschiede zwischen drei und 21 Zentimetern unfallfrei bewältigt werden können. „Dieses Ergebnis unterstreicht klar die Bedeutung antizipativer Anpassungen im Alltag. Es belegt, dass Menschen, die wegen verringerter Sehkraft oder neuronaler Erkrankungen zu diesen Anpassungen nur noch eingeschränkt in der Lage sind, ein erheblich höheres Sturzrisiko haben“, sagt Müller.
Anknüpfend an die neue Studie will das Bayreuther Forschungsteam seine Untersuchungen zu antizipativen Strategien weiter vertiefen. Dabei geht es beispielsweise auch um die möglichen Einflüsse von medizinischen Wirkstoffen oder von Alkohol, die diese Form der muskulären Kontrolle schwächen könnten. Weitere Untersuchungen richten sich auf die Frage, inwieweit High-Level-Strategien durch Trainings- und Lernprogramme gestärkt und optimiert werden können.
Kooperation und Forschungsförderung:
Die Forschungsarbeiten wurden in Zusammenarbeit mit Mitarbeiter*innen am Hertie Institute for Clinical Brain Research and Center for Integrative Neuroscience in Tübingen, an der Universität Stuttgart und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Sie wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst gefördert.
Veröffentlichung:
Lucas Schreff, Daniel F. B. Haeufle, Johanna Vielemeyer, Roy Müller: Evaluating anticipatory control strategies for their capability to cope with step-down perturbations in computer simulations of human walking. Scientific Reports 12, 10075 (2022), DOI: https://doi.org/10.1038/s41598-022-14040-0